Redemanuskript von Joëlle Lewitan für Demokratie braucht DICH! 08.02.2025
Es gilt das gesprochene Wort.
„Ich stehe heute hier als Enkelin von vier Shoah Überlebenden.
Meine Großeltern hatten den Mut, sich im Land der Täter und Täterinnen eine Familie und ein Leben aufzubauen. Trotz allem was sie erleben mussten, haben sie an eine demokratische Zukunft in Deutschland geglaubt. Und dennoch: Bis zum Ende ihres Lebens hatten sie Angst, als Juden negativ aufzufallen.
Ich habe ihnen und mir immer versprochen:
Heute ist es anders.
Als Jüdin in Deutschland muss ich mich nicht verstecken, als Jüdin fühle ich mich hier sicher. Wegen diesem Versprechen stehe ich heute hier.
Weil ich jüdisch bin und zu diesem Land gehöre.
Weil es nicht sein darf, dass ich in Deutschland als Jüdin Angst haben muss.
Ich stehe heute hier, laut und wütend. Wütend, dass in diesem Land gerade eine Partei voller Rechtsextremisten an die Macht zu kommen versucht. Wütend, dass andere Parteien sie dabei auch noch unterstützen.
Wer am 27. Januar „Nie wieder“ bekundet und 48 Stunden später gemeinsame Sache macht mit Rechtsextremisten macht, der gedenkt nicht unserer Vorfahren, er verrät sie. Es ist ein Verrat an meine Großeltern, ein Verrat an allen Überlebenden, an allen Juden*Jüdinnen und damit: an alle Demokrat:innen. Sich mit dem Gedenken an ermordete Juden*Jüdinnen zu schmücken und zugleich jüdisches Leben heute zu gefährden – das ist unverzeihlich.
Wer meint Antisemitismus mit Rassismus zu bekämpfen, der irrt. Wir, Juden*Jüdinnen lassen uns nicht für rechte Hetze instrumentalisieren. Gegen jeden Rassismus und Antisemitismus!
Die letzten Wochen sollten uns eins gezeigt haben: Einmal im Jahr Nie wieder zu sagen reicht nicht. Als Demokraten machen wir ein tägliches Versprechen: Nie wieder!
Nie wieder ist keine passive Floskel, sondern aktive Selbstreflexion. Wir alle hier müssen uns die unbequemen Fragen stellen. Wo sind wir Bystander? Wo tragen wir zu Antisemitismus und Rassismus bei? Zu viele haben toleriert, dass jüdisches Leben so bedroht ist, wie seit 80 Jahren nicht mehr. Dass Häuser mit Davidsternen markiert, Synagogen und jüdische Friedhöfe in Brand gesetzt, oder geschändet werden und jüdische Studierende vom Campus gejagt werden. Zu viele haben toleriert, dass rassistische Politik für Selbsterhaltung missbraucht wird, Menschen ihre Daseinsberechtigung abgesprochen werden und zu Hetzte aufgerufen wird. Der Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus gehört zusammengedacht, nicht gegeneinander ausgespielt.
Ich bin in dieser Stadt aufgewachsen. Einst die Stadt der Bewegung, heute die Stadt der Lichterkette. Ich bin Münchnerin. Hier habe ich den jüdischen Kindergarten, die jüdische Grundschule besucht. Als Kind war es für mich das normalste der Welt, dass das Eingangstor von bewaffneten Securityguards und Polizei geschützt werden musste. Dass ein Ort, an dem unschuldige Kinder zum Spielen und Lernen kommen, höchsten Sicherheitsmaßnahmen unterliegt, das habe ich nie hinterfragt. So bin ich aufgewachsen. Diese kranke Realität war für mich ein Normalzustand. Doch seit dem 7. Oktober hat der Antisemitismus eine neue, unvorstellbare Dimension erreicht. Und gleichzeitig wirken diese Bilder so alarmierend vertraut. Es sind Bilder, die sich in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt haben. So hat es schon mal angefangen.
Wenn sich Juden*Jüdinnen in Deutschland nicht mehr sicher fühlen, dann geht das jeden hier etwas an.
Was Juden*Jüdinnen und anderen Minderheiten zuerst trifft, betrifft am Ende alle.
Antisemitismus ist ein Barometer wie es um dieses Land, um unsere Demokratie steht.
Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit, wir müssen für sie kämpfen. Wir brauchen die Demokratie, in diesen Tagen braucht sie auch uns. Es ist ein endloser Kampf, aber einer für den es sich zu kämpfen lohnt.
Die letzten Wochen haben einen hilflos fühlen lassen. Aber hier und jetzt, Zehntausend Menschen, die für dasselbe einstehen, das soll uns daran erinnern: Wir sind nicht ohnmächtig, wir sind wehrhaft, wir können gemeinsam etwas bewirken. Wir haben buchstäblich die Wahl.
Ehrlich gesagt: Ich hätte mir gewünscht heute nicht über die Shoah, nicht über Antisemitismus sprechen zu müssen. Wir Juden*Jüdinnen stehen für so viel mehr. Wir haben nicht nur diese Vergangenheit. Wir wollen auch eine Zukunft. Der Kampf gegen Antisemitismus bedeutet immer auch pluralistisches junges, jüdisches Leben zu zelebrieren. Dafür muss aber eins garantiert sein: Sicherheit, wie sie nur eine Demokratie verspricht. Der Kampf gegen Antisemitismus ist immer auch ein Kampf für Menschenrechte. Mit einer Partei wie der AFD und ihren Steigbügelhaltern steht diese Sicherheit auf dem Spiel. Genauso durch Islamismus und Jeder Form von Extremismus. Und eine Sache noch: Jüdische Menschen auf offener Straße zu attackieren, aufgrund dessen, was gerade im Nahen Osten geschieht, das ist kein politischer Aktivismus, das ist Antisemitismus. Punkt.
Meine Großeltern haben durch die Nazis alles verloren. Familie, Freunde, Ihr Zuhause. Und trotzdem haben sie an dieses Land geglaubt. Ihre Hoffnung darf nicht umsonst gewesen sein. Das wäre unverzeihlich. Ich habe ihnen immer versprochen, dass es heute anders ist. Dass Juden*Jüdinnen sich nicht mehr verstecken müssen, dass sie sich in diesem Land sicher fühlen können. Wir haben als Gesellschaft die Verpflichtung, dieses Versprechen zu halten.
Schaut nicht weg, schaut hin. Wählt für Menschen, nicht gegen sie.
Danke für euer Kommen, vielen Dank!“